Leseprobe zu True Colours: Die Farbe des Glücks
Hier gibt es das erste Kapitel aus True Colours – Die Farbe des Glücks für euch. Viel Spaß!
PROLOG
April
Joanna
„Nach dem Brand 1849 wurde es von dem englischen Architekten Charles Barry, der unter anderem an der Gestaltung des Big Ben beteiligt war, 1851 neu errichtet. Seit 1890 befindet sich Cliveden im Besitz der Familie York und ist seit Anfang der 1980er-Jahre für Besucher geöffnet.“
Ich lasse die Informationen auf mich wirken und bewege mich langsam in Richtung Ostflügel, in dem sich die Porträts der Familie York in der Ahnengalerie befinden. Neben der Tür hängt die Abbildung von König Richard IV. – dem Urvater der Familie. Wie immer rattere ich meinen seit bereits zwölf Jahren einstudierten Text herunter. In dem Saal, der für die Familienvorstellung ausgewählt wurde, fanden früher Bälle und Hochzeitsfeiern statt. Heute kann man dort auf eine Zeitreise gehen: von Richard IV. aus dem Jahr 1480 bis ins Heute zu Eleonora York, Duchess of Westmorland – meiner Arbeitgeberin.
Da ich den Touristen nicht alle Porträtierten vorstelle, gebe ich der Besuchergruppe aus Italien genügend Zeit, damit sie sich auf eigene Faust in den Räumlichkeiten umsehen können. Ich ziehe mich zurück in eine Ecke, blicke aus dem bodentiefen Sprossenfenster und bin mit meinen Gedanken eigentlich ganz woanders. Denn in meinem Kopf erstelle ich gerade einen Plan, wie ich mich dazu motivieren soll, diesen einen – letzten! – dämlichen Karton in meinem Büro im neuen Haus auszuräumen. Seit Tagen steht er dort als einziges Überbleibsel unseres Umzugs von London nach Hayes. Doch seitdem Kyle und ich umgezogen sind, hat eine ziemlich belastende Lethargie Besitz von mir ergriffen. Ich war noch nie in meinem ganzen Leben weg von London gewesen, von meiner Familie oder den mir so gut bekannten Häusern, Straßen und dem so typischen Gewusel der Stadt. Hayes ist dagegen … darf ich „stinklangweilig“ sagen? Denn ja, genau das ist es. Ich fühle mich, als würde ich schon durch mein zu lautes Atmen auf offener Straße negativ auffallen. Die Gegend dagegen aber ist wunderschön – das hatte ich auch Dad erzählt, als ich stolz verkündete, dass Kyle und ich uns ein Haus gekauft haben.
Mein Dad rümpfte die Nase, murmelte etwas Unverständliches in sein Glas – und ich wette mein letztes Hemd darauf, dass er in der Zwischenzeit einmal dort hingefahren und sich den Ort und die Umgebung mit eigenen Augen ansehen musste. So ist mein Dad. Aber hey, ich liebe den Kerl einfach.
Mein Gott, du Freak, musst du eine Träne zurückhalten, nur weil du an deinen Daddy denkst? Ich bin echt ein totales Baby. Ich mag eine große Klappe haben, zähle aber zu denjenigen, die mit Veränderungen oder unbekannten Situationen so überhaupt nicht umgehen können. Frei nach dem Motto „Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht“, bewege ich mich lieber in vertrauten Gewässern, anstatt jede noch so wilde Sache zumindest einmal zu probieren. Vermutlich wurde ich gleich nach meiner Geburt in eine Reha-Klinik für Burn-out-Gefährdete eingewiesen, weil mich die Veränderung, ab sofort nicht mehr im Mutterleib wohnen zu dürfen, total frustriert hat. Außerdem war ich ein Schreibaby, hat mir meine Mum einmal erzählt. Und dann wurde ich erst recht zu einer richtigen Göre, die nicht ganz normal schien.
So habe ich mich also seither durchs Leben gewurstelt. Jede Umstellung war bisher der blanke Horror für mich. Als ich nach der Grundschule auf die Public School kam, konnte ich nächtelang nicht schlafen. Ich aß nichts, trank nichts – und so fiel ich irgendwann einfach um. Es war wie bei einem dieser Kartoffelsäcke: Solange er eine stützende Wand hinter sich hat, steht er, doch … Nein, ich bin zu müde, um irgendeine großartige Metapher zu entwickeln. Die vergangenen Tage waren total anstrengend. Susy und ich schrubbten das Haus von oben bis unten durch, während die Männer Möbel packten und in die jeweiligen Räume verteilten. Es gleicht einem Wunder, dass beide diese Tage überlebt haben. Denn beinahe wären sie von mir umgebracht worden, weil sie immer wieder mit ihren nassen, schmutzigen Schuhen durch die Räume latschten und meine und Susys Arbeit praktisch zunichtemachten. Ich gebärdete mich daheim wie eine Furie und hetzte jeden Tag frühmorgens in die Arbeit, wo es nicht minder stressig zuging. Ich kam erst spät zurück – nur um dann weiter zu putzen.
Mittlerweile wissen meine Mitarbeiter zum Glück, dass meine ausgesprochenen Morddrohungen nicht ernst zu nehmen sind und ich keinen ihrer Spinte, Autos oder Häuser abfackele, wenn sie einmal etwas falsch gemacht haben. Ich werde wohl auch niemals einen von ihnen einmauern oder in den Kerker werfen lassen. Und auch meine Chefin Ellie, der das Anwesen gehört, weiß, wie sie mit mir umgehen muss.
Trotzdem war ich ziemlich entnervt, als gleich mehrere Kollegen plötzlich krank wurden und ich nun zusätzlich zu meinen Aufgaben auch noch ein paar der Führungen übernehmen musste. Verkürzt bedeutet das: unzählige Überstunden – und das ausgerechnet während des Umzugs. Als unsere Couch letzte Woche vor meinen Augen in eine schlammige, schmierige Pfütze plumpste, war ein Punkt erreicht, an dem ich es für eine ausgezeichnete Idee hielt, mit dem Trinken anzufangen. Denn ich meine, wie verlockend klang in so einer Situation eine Flasche Whisky? Zumindest Kyle behielt die Ruhe, während ich ihn anschrie und fragte, ob ihm jemand ins Hirn geschissen habe, weil er es nicht mal schaffte, das Ding richtig zu tragen. Doch selbst nach dieser brutalen Verbalattacke sagte er nichts. Gar nichts. Das ist seine Art, mit einer Situation, die ihn überfordert, umzugehen – er zieht sich innerlich zurück und hält den Mund.
Außenstehende haben uns bestimmt längst den Titel als das ungleichste Paar der Welt verliehen: ich, die Quasselstrippe, und Kyle, der Schweigsame. Doch seltsamerweise funktioniert es zwischen uns ganz gut. Ich fühle mich an Kyles Seite wohl und angekommen. Sonst hätte ich ihn ja auch nicht geheiratet.
Nach etwa 15 Minuten trommele ich die Besuchergruppe wieder zusammen und führe sie auf die große Terrasse. Es ist kühl, obwohl die Sonne scheint – der kalte Wind bläst uns um die Ohren. Während ich den Besuchern erzähle, dass die Terrasse 1893 aus Italien importiert und hier wieder aufgebaut wurde, bemerke ich den Hauch, der beim Sprechen aus meinem Mund kommt. Ich ziehe den Gürtel meines Mantels enger zu und deute in Richtung des wundervoll angelegten Gartens, in dem es nun, im Vergleich zum Sommer, leider noch etwas düster aussieht. Ich liebe diesen Teil des Anwesens – den Garten mit dem Blumenmeer im Sommer, dem saftigen Grün der Wiesen, dem Plätschern der Springbrunnen und des kleinen Baches am Grundstücksrand.
Seit ich vor über zwölf Jahren das erste Mal hier war, um mich für den Job als Touristenguide zu bewerben – womit ich versuchte, mein bescheidenes Leben als Studentin etwas aufzupeppen –, habe ich mich regelrecht verliebt in diesen Ort. Ich mag dieses Flair, das Feeling, das mich hier umgibt. Ich mag das Haus, die Räume, die Einrichtung. Nicht zuletzt ist es Ellie zu verdanken, dass ich nach meinem Studium hierher zurückgekommen bin, um die Verwaltung des Anwesens zu übernehmen. Seither bin ich für das Marketing, die Planung sämtlicher Veranstaltungen, für die Einteilung der Mitarbeiter und die Betreuung des Museums verantwortlich. Ich bin im Laufe der Zeit zu Ellies rechter Hand mutiert, und sie wurde zu einer Art Ersatzmutter für mich, die mich mit ihrem losen Mundwerk, ihrer direkten Art und ihrer Herzlichkeit in null Komma nichts für sich gewonnen hatte.
Meine heutige Führung endet im ehemaligen Wintergarten, der heute ein Café beherbergt. Abermals gebe ich einige Fakten zum Besten, ehe ich mich für die Aufmerksamkeit bedanke und verabschiede, um die Reisegruppe in den Souvenirshop zu entlassen.
Es ist kurz vor elf, und ich mache mich daher auf den Weg in mein Büro, um die Arbeit des Vormittags nachzuholen. Der Sommer steht – auch wenn es heute nicht so wirkt – vor der Tür, was mich zwingt, mich fast jeden Tag mit irgendwelchen Frischverlobten zu treffen, die hier auf Cliveden ihre Hochzeit feiern wollen. Um Kosten für das Personal zu sparen, habe ich mich freiwillig zur Verfügung gestellt. Daher durchlebe ich jenen stressigen Alptraum, der vor knapp einem Jahr meiner war, immer und immer wieder. Ich werde gezwungenermaßen Zeugin von wilden Auseinandersetzungen und musste einmal sogar eine Handgreiflichkeit verhindern. Würden wir das Geld, das wir dank Hochzeiten einnehmen, nicht so dringend benötigen, hätte ich das Ganze längst abgeblasen. Aber Ellie liebt Romantik – und nebenbei gesagt, kann sie manchmal ganz schön stur sein. Außerdem ist sie ja die Chefin.
Noch während ich die Tür zu meinem Büro öffne, taucht besagte Person hinter mir auf. Ellie führt das Leben einer alten, zufriedenen Dame. Sie ist 71, liest für ihr Leben gerne kitschige Romane und reitet nach wie vor, auch wenn ihr Arzt es ihr mehrmals verboten hat. Noch immer ist sie ins Tagesgeschäft involviert, hat aber zumindest einige ihrer Aufgaben an mich abgetreten. Doch am liebsten redet sie einfach nur. Daher weiß ich, als sie mit mir in mein Büro kommt, dass ich wohl so schnell nicht dazukommen werde, dem blinkenden Symbol auf meinem Computerbildschirm nachzugehen.
„Du siehst müde aus, Josie. Liegt das an eurem Umzug, oder ist es vielmehr der Tatsache geschuldet, dass du dich eine frisch verheiratete Ehefrau nennen darfst?“ Sie schmunzelt, während sie einen Stapel meiner neu gedruckten Visitenkarten mit meinem neuen Namen darauf geraderückt. Aus Joanna Philips ist Joanna Douglas geworden.
Ich grinse, lasse mich auf meinen ledernen Schreibtischsessel sinken und rolle damit ein paar Zentimeter nach hinten. „Ich wusste, was auf mich zukommt, Ellie. Die Ehe ist nichts für Romantiker oder Träumer. Sie ist stahlharte Arbeit mit viel Stress und Staubwischen.“
„Genau darum bin ich nicht verheiratet. Nicht mehr“, fügt sie achselzuckend hinzu.
Irgendetwas ist heute anders an ihr. Seit ich sie kenne, war sie immer wunderschön und bezaubernd, und ich bin überzeugt, sie kann es locker mit jüngeren Frauen aufnehmen. Es ist wohl ihr Charme, der mit den Jahren an Intensivität gewonnen hat, der mich so fasziniert. Sie trägt ihr Haar bewusst länger als die meisten Frauen in ihrem Alter. Doch vorwiegend hat sie es zu einem akkuraten Knoten hochgesteckt. Ich habe Ellie noch nie in Hosen gesehen. Ihr Alltagsdress besteht aus einem Kleid. Farben liebt sie, ebenso wie Schuhe. Gott, wie sehr ich sie um ihre Sammlung beneide. Erst letzte Woche meinte sie, dass ich nach ihrem Tod all ihre Sachen erben würde. Andere würde so eine Aussage erschrecken, doch da ich schon so lange mit Ellie arbeite, habe ich gelernt, mit ihrer direkt-unverblümten Art umzugehen.
„Gibt es irgendetwas zu verkünden, Ellie? Sie strahlen heute so.“
Meine Frage zaubert ihr eine sanfte Röte auf die Wangen. „Als ich jünger war und mein Mann noch lebte, da habe ich mir geschworen, dass ich ganz anders als meine Schwiegereltern werden würde. Du erinnerst dich, was ich dir über sie erzählt habe?“
Und wie ich das tue. Ihr Schwiegervater war ein Tyrann gewesen, der auf ähnliche Weise wie seine Vorfahren vor 200 Jahren regiert hatte. Ihre Schwiegermutter war launisch, altbacken und konservativ gewesen. Ellie brachte viel Wirbel in den spröden Haushalt, als sie ihren Ehemann heiratete. Sie kämpfte eisern und entschlossen gegen die veralteten Gebräuche an und besserte daneben die Kasse der Familie auf, indem sie das Schloss für die Öffentlichkeit zugängig machte. Sie hat es ganz bestimmt nie einfach gehabt, und trotzdem hat sie nie vergessen, dass es im Leben nicht immer auf Regeln und Profti, sondern auf Menschlichkeit und Empathie ankommt. Diese Werte gibt sie auch noch heute an ihre Familie, ihre Mitarbeiter und natürlich auch an mich weiter. Von ihr habe ich bereits sehr viel gelernt.
Auf mein Nicken hin fährt sie fort. „Ich wollte niemals als altes Wrack durch die leeren Gänge huschen und die Mitarbeiter belästigen. Und schon gar nicht habe ich vor, irgendwo einmal als steife Leiche gefunden zu werden.“
„Ellie“, unterbreche ich sie mit mildem Tadel in der Stimme, weil sie, seit sie 70 geworden ist, glaubt, jeder Tag könnte ihr letzter sein. Von diesem Gedanken will ich sie abbringen. Nicht zuletzt, weil ich selbst ihren Verlust nicht ertragen könnte. Nach meiner Mum war sie die einzige Frau in meinem Leben gewesen, die ich aus ganzem Herzen lieben konnte, der ich vertraute, bei der ich mich verstanden und geborgen fühlte.
„Nein, nein Josie“, beharrt sie und deutet mit dem Zeigefinger in meine Richtung. „Ich habe mir vorgenommen, dass ich spätestens mit 70 meinen Ruhestand genießen möchte. Manchmal, da kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als bis Mittag zu schlafen, etwas zu essen und dann im Garten spazieren zu gehen. Ohne all die Leute ringsum, ohne dieses miese, kalte, englische Wetter.“
„Sie wollen wegziehen?“, frage ich skeptisch, während ich die Sammlung an Kulis, von denen bestimmt die Hälfte nicht mehr schreibt, mitsamt dem Becher, in dem sie stecken – den der Winzling mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hat, und über dessen aufgedruckten Spruch ich noch immer nicht schmunzeln kann, während Susy jedes Mal vor Lachen schier krepiert, wenn sie ihn zu Gesicht kriegt –, über die raue Oberfläche meines Schreibtisches schiebe.
Ellie beobachtet mein Treiben, holt dann einmal Luft und meint mit todernster Stimme: „Da du kein blaues Blut hast, Schätzchen, wirst du irgendeinen alten Aristokraten heiraten müssen – denn danach gehört der Laden dir. Und ich werde auf Mauritius Sangria schlürfen.“
„Was? Nein, Moment: WAS?“
Mein Gesichtsausdruck muss zum Schreien komisch sein, da Ellie herzhaft zu lachen beginnt. „Meine Familie würde mich umbringen, Schätzchen. Sie hat längst mehr als ein Auge auf das Schloss geworfen.“
„Das mag daran liegen, dass sie noch nie einen Blick in die Abrechnungen geworfen haben“, behaupte ich, da ich ziemlich genau weiß, wie rot die Zahlen darin sind. Wäre ich irgendeine Investmenttussi, hätte ich mir bestimmt schon eine Flasche Whisky geschnappt und säße betrunken, heulend und schreiend in einer Ecke. Das Ding ist ein Fass ohne Boden. Und weder Ellie noch ich besitze so etwas wie Kalkulationstalent. Ellie noch weniger. Sie dreht schon total durch, wenn sie, wie letztes Jahr, Stoffe für Vorhänge aussuchen muss. Und dabei ist es jedes Mal, als würden sie die teuren Dinge sie magisch anziehen.
„Verzeih mir meinen kleinen Spaß, Josie“, sagt sie jetzt, um mich zu beruhigen. „Aber ich werde definitiv etwas ändern. Noch bin ich annähernd richtig im Kopf. Aber Gott bewahre, ich habe schon Frauen gesehen, die mit dem Alter den Verstand verlieren. Und ist dann keiner hier, der mich bremst … oh, oh, oh …“
Kopfschüttelnd steht sie auf, rückt den Stuhl zurück und murmelt irgendetwas vor sich hin. „Und was bedeutet das jetzt genau?“, frage ich ihr hinterher, als sie bereits den etwa vier Quadratmeter großen Teppich, auf dem mein Schreibtisch steht, verlassen hat.
Sie dreht sich um und grinst übers ganze Gesicht. „Ben.“
„Affleck?“
„Wer soll das sein, Schätzchen?“
„Ein … das ist ein Schauspieler. Ein ziemlich ansehnlicher. Zumindest war er das früher mal.“
„Oh, du meinst ein scharfes Gerät?“
Mann, wie schräg ich das immer finde, wenn Ellie irgendwelche Wörter, die sie im Fernsehen aufgeschnappt hat, nachplappert, ohne wirklich zu wissen, was sie bedeuten. Das klingt total … spooky. „Genau. Aber wer ist jetzt Ihr Ben?“
„Mein Enkel – du erinnerst dich doch, dass ich ab und an etwas von ihm erzäglt habe? Und ich denke mal, dass ihn manche Frauen, oder sogar die meisten, als ansehnlich bezeichnen würden. Ben wird mir helfen, das Unternehmen hier zu führen, weil ich fürchte, Josie, dass es irgendwann stetig bergab gehen wird mit mir.“ Ihr Blick verändert sich, sie wird fahler im Gesicht und kommt ein, zwei Schritte zurück zu mir. „Mein Arzt meinte, ich müsse auf mich aufpassen, mein Herz schonen und mein Engagement zurückschrauben. Ich will hier nicht weg, auch wenn es Tage gibt, an denen ich euch alle am liebsten verjagen und mich alleine hier verstecken möchte. Seit über 100 Jahren befindet sich dieser wundervolle Ort in Familienbesitz, und ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass das in Zukunft anders wird. Benjamin wird mein Nachfolger werden. Er steht schon lange fest dass er das Anwesen erben wird. Jedoch haben sich ich und meine Familie dazu entschieden, Ben ab sofort in das Tagesgeschäft zu involvieren, um ihm den Einstieg und mir den Abschied so leicht wie möglich zu machen.“
„Ich …“, beginne ich, springe auf und stolpere beinahe über das Telefonkabel, das, seit ich mich entschieden habe, meinen Schreibtisch mitten in den Raum zu stellen, lose auf dem Boden liegt und das Telefon mit der Wand verbindet. „Ellie, es geht mich zwar nichts an, aber irgendwie doch … Sie hätten mit mir darüber sprechen sollen.“
„Worüber? Über Ben? Meine Herzschwäche?“
„Über alles, Ellie. Ich dachte, Sie vertrauen mir.“ Ich klinge genauso enttäuscht, wie ich mich fühle. Ich war wohl so blauäugig, zu glauben, dass Ellie mich als Teil ihres inneren Kreises sieht. Ich mag ihr wichtig sein, aber trotzdem bin ich nur eine Angestellte. Es ist dumm von mir, dass ich jetzt deprimiert bin, weil sie die Fäden bereits im Hintergrund gezogen hat. Aber verdammt, es fühlt sich einfach nicht gut an.
Ellie scheint zu spüren, dass sie mich auf eine gewisse Art verletzt hat, da sie sanft lächelnd zu mir kommt und eine Hand auf meinen Oberarm legt. „Schätzchen, ich vertraue dir wie keinem anderen Menschen. Du hast mir in all den Jahren bewiesen, dass ich mich auf dich verlassen kann. Selbst wenn es hart auf hart kommt. Aber es gibt Dinge, die ich vor dir genauso wie vor allen anderen verheimliche, weil ich euch nicht beunruhigen möchte.“
„Schon gut“, meine ich und winke ab. „Das Wichtigste ist aber, dass Sie sich schonen. Das meine ich ernst.“
Sie lächelt ihr locker-junges Lachen, und sofort weiß ich, dass sie die Situation nicht annähernd so ernst nimmt wie ihr Arzt oder ich. „Unkraut vergeht nicht. Aber da meine Tochter unglaublichen Druck macht, kann ich nicht mehr aus. Ich muss Benjamin herkommen, ihn die Tradition unserer Familie fortführen lassen und mich damit abfinden, seine Hilfe anzunehmen.“
Ich kenne Ellies einzige Tochter nur sehr flüchtig. Sie wiederum wird wohl überhaupt keine Erinnerung an mich haben, wozu sie ja auch gar keinen Grund hat, bin ich ja doch nur eine Angestellte der Familie. Ich denke aber, dass jemand, der es wagt, Ellie in die Schranken zu weisen, ziemlich energisch und mit einer großen Durchsetzungskraft gesegnet sein muss. Laut Ellies Erzählungen ist die gesamte Familie eine einzige Brut von Dickköpfen und Schwachsinnigen – so behauptete sie es zumindest einmal. Mit der Beschreibung kommt sie jener meiner eigenen Familie im Übrigen auch sehr nahe.
„Und bei dir, Liebes? Ebbt der Umzugsstress langsam ab?“
Um mich vor einer Antwort zu drücken, ziehe ich an dem gestärkten Kragen meines weißen Hemdes, das ich unter dem grauen Wollkleid trage. Dabei fällt mir ein, dass ich unbedingt die Heizung zurückdrehen muss. Irgendjemand – entweder die Putzfrau oder der Hausmeister – dreht sie jeden Tag auf die höchste Stufe.
Doch da Ellie mit ihren Augenbrauen zu zucken anfängt, seufze ich schließlich und verschränke meine Hände vor meinem Bauch. „Jeder Umzug ist chaotisch, aber manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich das Privileg, von nervigen Dingen am häufigsten heimgesucht zu werden, für mich gepachtet. Mein Mann hält sich sowieso aus allem raus und ist den ganzen Tag im Büro. Sie dürfen mich natürlich gerne einmal besuchen kommen, Ellie, aber damit müssen Sie bestimmt noch ein Jahr warten. Ich will nämlich nicht, dass Sie mich für einen Messie halten.“
Sie lächelt. Sie hat aber auch wirklich überhaupt keine Ahnung, wie es im Moment bei mir zu Hause aussieht. Hätte sie sich nämlich bereits ein Bild von meiner Küche oder von meinem Bad machen dürfen, hätte sie sofort die Hände über den Kopf zusammenschlagen.
„Ich werde mich wohl nach einer Haushaltshilfe umsehen müssen“, denke ich laut und versuche mich zu erinnern, wer von uns beiden – also Kyle oder ich – die Idee gehabt hat, in ein gottverdammtes Haus mit Garten zu ziehen.
„Du hast in den letzten Tagen sehr hart gearbeitet, Josie. Warum gehst du heute nicht früher nach Hause, überrascht deinen Mann mit einem guten Essen und gönnst dir einfach einmal etwas Ruhe?“
Der Vorschlag klingt … verlockend. Doch beim Anblick der Arbeit, die sich auf meinem Schreibtisch türmt, bleibt es fraglich, ob es vernünftig ist, Ellies Angebot anzunehmen. „Ich fürchte, das geht nicht“, sage ich daher und lasse die Schultern hängen. „Ich habe zu viel zu tun.“
„Ach was“, widerspricht mir Ellie und schnappt sich meine Jacke, die ich über die Lehne meines Schreibtischsessels geworfen habe. „Wenn ich in meinem Leben eins gelernt habe, dann das: dass man ab und zu einfach mal Ruhe geben und die Arbeit Arbeit sein lassen muss.“
Nur eine Sekunde später hängt meine dünne dunkelblaue Wolljacke über meinen Schultern, und ich blicke in Ellies entschlossenes Gesicht. „Das ist eine überaus schlechte Idee.“
„Ja, ja. Geh jetzt. Ich will nichts mehr hören.“
Ganze 30 Minuten später parke ich meinen Audi in unserer Einfahrt. Wir haben zwar eine Garage, doch dort befindet sich momentan ein Möbellager, bestehend aus verschiedenen Stücken, für die Kyle und ich noch nicht den passenden Platz gefunden haben. Das wiederum hängt wohl auch damit zusammen, dass unser Geschmack mehr als unterschiedlich ist. Während ich es liebe, auf Flohmärkten nach alten Schränken und Stühlen zu stöbern, kann es Kyles Meinung nach nicht modern genug sein. Er meint, ich selbst sollte einen Flohmarkt in unserer Garage veranstalten, damit wir ein Problem weniger hätten.
Doch im Augenblick sind mir die Möbel egal, ich freue mich ganz einfach nur, daheim zu sein. Es ist gerade einmal zwei Uhr nachmittags, dank Sonne offenbart sich mir ein wundervoller Frühlingstag, und ich habe vor, mich mit einer Kanne Tee, meinem neuen Buch und einer Decke auf die Couch zu schmeißen. Kyle wird überrascht sein, mich zu Hause vorzufinden, wenn er später von der Arbeit kommt.
Während ich den Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger drehe, hole ich die Post aus dem Briefkasten, klemme sie mir unter den Arm und schließe die Haustür auf. Noch immer riecht es nach frischer Farbe, neuen Möbeln, und ich fühle mich wie berauscht sicher zu wissen, dass – zumindest im Augenblick – hinter keinem Bett oder Sofa Wollmäuse leben. Das Haus wurde in den Fünfzigerjahren erbaut. Zu dieser Zeit wurde der gesamte Stadtteil modernisiert. Wo früher alte Fabriken standen, die dem Stadtbild einen schäbigen Touch verpassten, wurde also alles plattgemacht und neu aufgebaut. Unser Haus ist gemütlich, mit kleinen Räumen – es gibt also genügend Platz, um eine ganze Schar Kinder einzuquartieren. Der Flur wird im vorderen Eingangsbereich durch eine kleine Mauer zu jeweils beiden Seiten begrenzt. Weiße Säulen bilden die Ecken, und über drei Stufen gelangt man nach oben in den langen, hellen Gang. Von dort geht die Treppe ins obere Stockwerk ab. Rechts daneben befindet sich die Tür zum Büro – das ist der Raum, den ich zu meinem eigenen Wohlwollen nicht mehr betreten will.
Die erste Tür links ist die zur Küche, danach kommt jene zum Esszimmer, und am hinteren Ende befindet sich das Wohnzimmer. Ich steuere die erste Tür an, weil ich Durst habe und etwas trinken möchte, bevor ich mich umziehe, um meinen Allerwertesten auf die Couch zu pflanzen.
Gemeinhin sagt man ja, dass Menschen tief in sich drin spüren, wenn sie sich in einer Ausnahmesituation befinden. Irgendein Impuls in unserem Inneren muss dafür verantwortlich sein. Er hat die Funktion, uns innerhalb weniger Augenblicke, Millisekunden, tausende Gedanken fassen zu lassen; abzuwägen, was Einbildung, Täuschung oder Fehlinterpretation sein könnte. In Filmen erklingt dafür eine bedeutungsvolle Melodie, der Held oder die Heldin verweilt mit der Hand an der Türklinke, und alles spielt sich in Zeitlupe ab, während lediglich bestimmte Bilder von Gesichtspartien, den Augen oder zitternden Fingern gezeigt werden.
Während ich plötzlich aus meiner gemütlichen Wolke plumpse, scannt mein Verstand die Szene, die sich mir gerade bietet: Da steht Kyle, dessen oberste Knöpfe an seinem Hemd geöffnet sind, außerdem trägt er weder Sakko noch Krawatte; und da steht eine Frau neben ihm, mit dunkler Wallemähne, die ihren Mund seltsam verzogen geöffnet hat.
Wären das nicht meine Küche, mein Mann und mein Weinservice, würde ich mich wohl mit leiser Stimme entschuldigen und verschwinden. Doch dieses spezielle Gefühl in mir sagt, dass hier irgendetwas auf keinen Fall mit rechten Dingen zugeht.
Ich mache einen Schritt nach vorne, muss daher die Tür loslassen, und fühle, wie meine Knie kurz nachgeben. „Du bist heute schon da?“, ist das Einzige, was mir einfällt. Ich wage nicht einmal zu atmen, bin wie erstarrt.
Ich weiß, dass Kyle, wenn er anfängt, die Gründe zu erläutern, weshalb er eine für mich wildfremde Frau in unserer Küche geküsst hat, unserer Ehe mit einem Vorschlaghammer begegnen wird. Ich muss zugeben, dass der Kuss, den ich soeben beobachten musste, zwar zivilisiert war – kein stürmischer Überfall ihrerseits. Ich kenne Kyles Küsse, die sind immer vorsichtig, zurückhaltend. Nie hat er seiner Begierde deutlich nachgegeben. Das mag an seinem guten Elternhaus liegen. Seine Mutter hat immer mehr Wert auf Etikette als auf Gefühle gelegt. Er und sein Bruder wurden zu Gehorsam und Perfektion trainiert. Das Resultat dieser Erziehung ist, dass er bis heute nicht über seine Emotionen sprechen kann. Ich habe das nie als derart störend oder schlimm empfunden – immerhin habe ich ihn mir ja freiwillig ausgesucht; ich wusste sozusagen, auf welchen Typ Mann ich mich einlasse. Doch heute, da er diese Frau direkt vor meinen Augen geküsst hat und ich mich plötzlich unweigerlich mit der Frage nach seinem Charakter auseinandersetzen muss, ist wohl unsere Beziehung auf einen Schlag infrage gestellt.
„Ich … Joanna-Schatz“, beginnt er zu stottern und windet seine Hand aus ihrer. „Es ist nicht … ich kann alles erklären.“
„Ach ja?“, fahre ich ihn an, da ich langsam meine Fassung wiedergewinne.
Die Frau, die mit ihrer bloßen Anwesenheit in unserem Haus nun den kümmerlichen Anfang von so etwas wie Heimatgefühl zerstört hat, blickt unsicher zu meinem Mann – ja, meinem Mann!! –, ehe sie ihre Handtasche an sich nimmt und dabei ist zu flüchten. Vermutlich will sie nicht Teil unserer Unterredung werden, obwohl sie der Auslöser dafür ist. Sie sieht blass aus, als sie näher kommt und mich vorsichtig ansieht, als sei ich ein wildes Tier, das man ablenken muss, um sich an ihm vorbeischleichen zu können. Und tatsächlich würde ich am liebsten die Zähne fletschen oder knurren, um ihr ein akustisches Echo meiner unglaublichen Wut zu geben. Doch kaum hat sie die Tür, die ich nun nicht mehr blockiere, im Visier, stürmt sie davon und hinterlässt lediglich eine süßlich duftende Parfumwolke.
Zurück bleiben Kyle und ich. Er ist mein Mann. Meine bessere Hälfte. Der Mensch, der mir am Tag unserer Trauung schwor, mich für immer und ewig zu lieben, mir treu zu sein und meine Sorgen zu seinen werden zu lassen. Kyle ist … oder war, das trifft es wohl besser, der Mensch, der mich vollkommen gemacht hat. Er hat es geschafft, die Lücke, die meine Mum hinterlassen hat, zu füllen. Mein Leben war, bevor meine Mum so plötzlich verstorben ist, geregelt, erfüllt und glücklich. Ich hatte Träume und Ziele. Ich war ein Kind, vielmehr schon ein Teenager, und brauchte nichts so dringlich wie eine Mum, die für mich da ist, wenn sich die ersten körperlichen Veränderungen des Erwachsenwerdens bemerkbar machen. Aber gerade dann hat sie uns verlassen. Ich schäme mich das zu sagen, aber ich war in den Tagen nach ihrem Tod so furchtbar wütend auf sie. Ich erinnere mich noch, wie mein Dad sie, also vielmehr ihren Leichnam, aus der Klinik nach Hause bringen ließ. Sie lag in einem Sarg, trug ihr hübsches weißes Kleid, das sie nur wenige Tage zuvor zu Susys Geburtstag angehabt hatte. Ihr Haar, an dessen Geruch ich mich selbst heute noch erinnere, war offen und hing ihr in sanften Wellen über die Schultern. Ich stand also vor ihrem Sarg und betrachtete die Frau, die aussah wie die leere Hülle meiner Mutter. Der Frau, mit der ich nur vier Tage zuvor einen heftigen Streit gehabt hatte, in dem es darum gegangen war, wer für die Fütterung des Kaninchens verantwortlich war. Ich schrie sie an, tobte wie eine Wilde und knallte schlussendlich die Tür meines Zimmers zu. Ich habe sie eine dumme, engstirnige Frau, die nichts zustande gebracht hatte, als drei Kinder zu kriegen, genannt. Das hat sie tief verletzt, und ich habe mich nie dafür entschuldigen können.
Aber als ich vier Tage später vor ihrem offenen Sarg stand, da war ich einfach nur wütend. Ich hätte mich entschuldigen, hätte schluchzen können, wie Martin es tat. Ich hätte vielleicht auch genauso steif wie Dad dastehen können. Susy verstand das alles gar nicht. Sie war viel zu klein. Doch während um mich herum die Welt aus den Fugen geriet, stand ich trotzig da und war nur stinksauer auf sie. Als wäre das ihre Retourkutsche für das von mir Gesagte gewesen. Ich erinnere mich, dass ich zu ihr, ihrem Leichnam sagte, ich würde genauso gut ohne sie zurechtkommen, und sie solle da oben im Himmel, oder wo auch immer sie ist, ihren verdammten Spaß haben.
Heute schäme ich mich dafür, aber ich war ein unreifer Teenager, der natürlich völlig unter Schock stand. An diesem Tag aber, da verlor ich schlagartig die Leichtigkeit in meinem Leben und fand sie, glaube ich, erst wieder, als ich Kyle Jahre später traf.
Doch nun, in meiner neuen Küche, gerät meine solide verankert geglaubte Welt erneut ins Wanken. Wie bei einem Gewitter erwarte ich, dass die Wände zu wackeln beginnen und der Putz herabfällt. Doch nichts passiert. Gar nichts.
Da steht nur Kyle, der mich mit angehaltenem Atem ansieht.
„Na gut“, sagt er schließlich, steht auf und nestelt an seinem von mir so akkurat gebügelten Hemdärmel herum. „Es ist vorbei, Joanna. Ich will die Scheidung.“
„Wie bitte?!“ Ich bin völlig entrüstet, weil Kyle, seitdem ich ihn kenne, noch niemals etwas so bestimmt, mit solchem Nachdruck, gesagt hat wie gerade eben.
Er nickt, als brauche er diese Bestätigung selbst. „So ist es, ja. Ich empfinde nicht mehr dasselbe für dich wie früher. Es tut mir leid, dass es so brutal passieren muss, aber ich kann einfach nicht mehr so weitermachen.“
„Wir haben vor einem Jahr geheiratet … hast du den Verstand verloren?!“
Gut, ich brülle ihn an. Es geht in solchen Situationen einfach völlig mit mir durch, weil ich das Gefühl habe, durch meine freigelassene Wut eine Verletzung von mir selbst zu verhindern. Das ist so ein Tick, den ich an mir hasse, weil ich andere Menschen damit schier überfahre und eigentlich eh keinen Nutzen davon habe.
Kyle scheint das ähnlich zu sehen, denn er schließt die Augen, als ich nach Luft schnappend kurz innehalte und meint nur kühl: „Du wolltest die Hochzeit, vergiss das nicht.“
„Du hast mir einen verdammten Antrag gemacht, Kyle.“
„Ja, weil du es so wolltest. Genauso wie du in diesem kitschigen Schloss heiraten, ein Häuschen und darin grüne Wände haben wolltest. Alles dreht sich immer nur um dich, um deine Wünsche, deine Sorgen, deine Ängste. Joanna dies, Joanna das. Joanna und ihr Job, der sie so fertigmacht, dass sie es nicht schafft, für uns zumindest jeden zweiten Abend Essen zu machen. Joanna und ihre nervige Launenhaftigkeit – einmal will sie zurück nach London, dann wieder doch nicht. Ich habe es satt – habe dich satt, so leid es mir tut.“
Völlig sprachlos und mit großen Augen starre ich ihn an. Für Kyles Verhältnisse war dies ein epochaler Gefühlsausbruch. So etwas erlebt man wohl nur einmal in seinem Leben mit – doch eigentlich wäre ich froh, hätte ich auf dieses Erlebnis verzichten dürfen.
„Oh, und aus diesem Grund dachtest du, es sei auch nur ein kleines bisschen hilfreich, mich mit irgendeiner blöden Schlampe in meinem Haus zu betrügen, anstatt einfach einmal, rechtzeitig deinen Mund aufzumachen. Wie unendlich weise von dir, du Mistkerl!“
„Ich weiß, es hätte alles anders laufen sollen“, erklärt er zu meiner Überraschung und hebt beschwichtigend beide Hände, da ich tatsächlich kurz vorm Durchdrehen stehe. „Ich will mich auch gar nicht streiten oder meine Handlungen beschönigen. Es war falsch von mir, dich so zu hintergehen, aber ich brauchte wohl so etwas wie diesen Befreiungsschlag, um zu merken, dass ich nicht glücklich bin.“
„Nicht glücklich?“, wiederhole ich mit tonloser Stimme und fange an, meine Erinnerungen nach irgendwelchen prägnanten Ereignissen, die mich eigentlich in Alarmbereitschaft hätten versetzen sollen, abzusuchen. Man wird nicht von einem Tag auf den anderen unglücklich oder wacht morgens auf und denkt sich, dass man ausgerechnet heute, etwa an diesem warmen Frühlingstag, seine Frau betrügen will. Das alles entwickelt sich langsam, von Tag zu Tag. Doch Kyle und ich, so war zumindest meine Empfindung, haben nie schwerwiegende Probleme gehabt. Wir haben uns, so wie viele andere Paare, mit Kleinigkeit herumgeschlagen – der Unordnung des anderen, verpassten Terminen oder wenn einer von uns vergessen hatte, Milch zu kaufen. Alltäglicher Kram, der mich zumindest niemals veranlasst hätte, Kyle zu verteufeln oder gar zu betrügen.
Was also ist geschehen, dass Kyle diesen Weg eingeschlagen hat? Worin habe ich versagt?
Und als würde mir das Schicksal den Stinkefinger zeigen, schafft es Kyle selbst in dieser Situation höflich und sachlich zu bleiben, während ich ihn sogleich einen Mistkerl genannt und losgeschrien habe.
„Viele sagen, die Ehe sei ein Fluch“, fährt er ziemlich kryptisch fort. „Ich habe mich mein Leben lang von Frauen unterdrücken lassen. Das ist mir jetzt auch bewusst.“
Als er das sagt, beginne ich wie eine Verrückte zu lachen. Ich lache so stark, dass mir vereinzelt Tränen über die Wangen laufen und ich meinen Bauch halten muss. Kyle sieht mich fragend an.
„Was ist daran witzig?“, kann ich ihn durch meinen Lachanfall fragen hören.
Ich wedele mit einer Hand ab und versuche mich irgendwie wieder zu beruhigen. „Nichts, Kyle. Gar nichts.“
Er seufzt. „Sag schon. Warum lachst du?“
„Weil du der wohl größte Schlappschwanz aller Zeiten bist und es gerade laut und deutlich eingestanden hast.“
„Ich verstehe nicht …“, spielt er den Unwissenden.
„Du hättest, wenn ich nicht gerade hier hereingeplatzt wäre, niemals die Eier gehabt, mich zu verlassen.“ Doch während meines nächsten Satzes wird meine Stimme wieder ernst. „Du bist jämmerlich, Kyle. Ein widerlicher, kleiner Spießer mit einem Stock im Arsch. Anstatt dich einmal mit mir über die Dinge, die dich ganz offensichtlich stören, zu unterhalten, gehst du einfach fremd. Für jemanden, der derart wohlerzogen zu sein scheint, hast du dich wie ein absolutes Arschloch verhalten.“
„Gut“, schnaubt er und klingt wie ein beleidigtes kleines Kind, das akzeptieren muss, doch nicht in den Wasserrutschenpark fahren zu dürfen.
Mein anfänglicher Schock ebbt schlagartig ab, als ich seinen Gesichtsausdruck sehe. „Du packst sofort deine verfickten Sachen, siehst zu, dass du so schnell wie möglich Land gewinnst, und Kyle: Ich schwöre dir, ich werde dich fertigmachen – jedes verdammte Mal, wenn wir uns sehen.“
„Mir war klar, dass du austicken wirst. Das ist ja schließlich mehr oder minder immer deine Art gewesen, mit mir zu kommunizieren.“
„Bist du noch bei Trost?“, schnauze ich ihn unwirsch an und bestätige damit vermutlich nur seine Anschuldigung. Doch im Augenblick sind mir die und Kyles Meinung über mich herzlich egal. „Wie hätte ich mich denn sonst verhalten sollen?“
„Du könntest an dir arbeiten, Joanna.“
„Danke, das habe ich auch vor, jetzt, da ich wieder Single bin. Ich werde mein Leben in vollen Zügen genießen – ohne dich.“
Er schüttelt verächtlich den Kopf. „Du willst also nicht einmal versuchen, unsere Beziehung wieder zu kitten?“
„Nein“, brülle ich und spüre regelrecht das Platzen feinster Äderchen in meinem Gehirn. „Ich bin womöglich offen und kann über gewisse Dinge hinwegsehen. Aber wenn ich eines gelernt habe, dann das: dass ich nicht mit hintertriebenen Menschen zusammen sein will. Es gibt nichts, gar nichts mehr, an dem wir arbeiten könnten. Wenn je etwas da war, dann hast du es in dem Moment, als du diese Tussi da in unsere Küche geschleppt hast, vernichtet.“
Eine halbe Minute sehen wir uns gegenseitig an, während ich zunehmend fühle, wie mein Körper kribbelig wird. Als würden Beine und Arme ein Eigenleben entwickeln oder von winzig feinen Stromstößen durchzogen werden. Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen und das Ticken der Wanduhr hinter Kyle. Als er schließlich den Kopf senkt und die Fliesen unter seinen Füßen betrachtet, atme ich tief ein.
„Ich habe sie vor unserer Hochzeit kennengelernt“, murmelt er in Richtung seiner Schuhe, die wie immer auf Hochglanz poliert sind. Wahrscheinlich kann er sich selbst darin sehen. Und für jemanden, der sogar bei einem simplen Schnupfen glaubt, er hätte Leukämie im Endstadium, muss sein Gesichtsausdruck fürchterlich mitleiderregend wirken. Vermutlich fragt er sich, warum ich, die böse, knallharte Joanna, ihn nicht schon längst in die Arme genommen und ihm dabei überschwänglich verziehen habe.
So denkt er wirklich. Das hat er schon immer getan. Er kann nicht mal etwas dafür, weil seine Eltern jeden seiner Wünsche erfüllt haben, um ihn bei Laune zu halten, während er dem straff getimten Wochenplan seiner Mutter verhaftet war. Er hatte andauernd Folge zu leisten, und wenn er einmal auszubrechen versuchte, bekam er etwas geschenkt, das ihn wieder zu „Vernunft“ brachte, wie er mir einst erzählte.
Doch bei mir zieht die Masche nicht, und darum will er mir jetzt entweder endgültig das Herz brechen, indem er mir berichtet, dass er mit dieser Schnalle schon vor unserer Hochzeit was am Laufen hatte, oder er will tatsächlich einfach nur reinen Tisch machen.
„Sie kam in unsere Kanzlei, weil sie jemanden brauchte, der sie im Streit mit ihrem Ex um ihren Sohn unterstützt. Ich habe sie vor Gericht vertreten, und wir haben gewonnen. Letzte Woche habe ich sie zufällig in der Bäckerei, in die ich morgens immer gehe, getroffen. Wir haben einen Kaffee getrunken und uns auf Anhieb gut verstanden … es tut mir leid“, schließt er seine Ausführung ab und erspart mir somit all die verletzenden, hässlichen Details.
Dennoch hilft mir das alles nicht wirklich, um zu begreifen, was im Laufe unserer Ehe/Beziehung passiert ist, damit eine Frau, die er in einer verschissenen Bäckerei trifft (was faktisch täglich vorkommt), sein sexuelles Interesse weckt. „Ich begreife es nicht“, sage ich daher. „Ich begreife nicht, wie unser beider Auffassungsvermögen über die Gesundheit unserer Ehe so unterschiedlich sein kann. Denn ich war glücklich.“
Langsam schüttelt er den Kopf. „Das warst du nicht, Joanna. Spätestens, wenn du alles einmal hast verarbeiten können und über uns nachgedacht haben wirst, wirst du das begreifen.“
Und dann, zum ersten Mal seit Jahren, lässt Kyle mich nicht nur sprachlos, sondern auch alleine zurück. Mit Schrecken stelle ich fest, dass wir in der ganzen Zeit kaum je einen Abend getrennt voneinander verbracht haben. Er war immer da. Und jetzt … ist er weg.
Für immer.